Curd Jürgens an seine Schwester Jeannette. München, 23.9.1946
Liebe Jeannette!
Vielen Dank für Deinen langen Brief vom 19.8. Ich berichte Dir wieder ganz schnell im Diktat, da ich sonst nicht dazukomme, wie Du weisst. Also: Die Sorgen wegen der Übersendung deiner Pakete von hier nach der französischen Zone sind vollkommen unbegründet. Bis jetzt hat Mama noch alles bekommen, was Du an mich bzw. Lilian abgesandt hattest. Ich habe natürlich nicht geahnt, dass es Dir im einzelnen doch so schwer ist, die vielen Pakete zu senden und hatte nie geglaubt, dass sie so teuer sind. Wenn Du also trotzdem weiter Pakete senden willst, an Mama, wohlgemerkt, so tue es über Charles Weston, ohne Sorge, es ist der zuverlässigste Freund, den ich habe und Du sparst eine entscheidende Summe an Porto.
Nun will ich Dir gleich damit im Zusammenhang noch ein paar sehr wichtige Wahrheiten mitteilen: Natürlich ist das Leben für Mama und Margu[e]rite in der französischen Zone nicht ideal und sie schwimmen nicht im Fett, aber so, wie Mama es Dir anscheinend mitteilt und so wie Du es Dir vorstellst, ist es nun auch wieder nicht. Ich halte es für weit übertrieben, wenn Du Dich abrackerst, um Dinge herzusenden, die natürlich Sensationen für uns bedeuten und auch bestimmt zum Wohlleben der Familien entscheidend beitragen, auf die wir aber letzten Endes, zu einem grossen Teil jedenfalls, auch verzichten können. Ich war jetzt in Leutkirch und Du kannst mir glauben, ich habe mir die Verhältnisse sehr objektiv angeschaut. Die Kinder sind dick und rund und Mama und Margu[e]rite leben sehr anständig. Also Schluss mit den fortwährenden Besorgnissen und der Angst um das Verhungern. Lilian, die mich begleitete, wird, wenn sie ehrlich ist, Dir dasselbe berichten müssen. Verstehe mich recht, liebe Jeannette, so fabelhaft es von Dir ist, wenn Du Mama und der Familie hilfst, so unnötig ist es doch, dass Du Dich, Deine Gesundheit und Dein Privatleben ruinierst, um in zwei
Monaten für 250 Dollars Pakete zu schicken. Glaube auch, dass die CARE-Sendungen, so wie ich jetzt Deine Situation übersehe, viel zu teuer sind. Also, um das Thema noch einmal zu klären und zu beenden, wenn es unbedingt sein muss, sende weiter Pakete an Mama und Margu[e]rite, aber wirklich nur mit dem Bewusstsein, damit eine Zubusse zu schenken, die eine grosse Freude macht, aber nicht so wichtig ist, dass Du es Dir dort abknabsen musst und ferner spare das Porto und schicke es über Charles Weston. E[r] ist informiert und erwartet die Sendung. Soweit die Familie.
Was mich betrifft, liebes Jeannetteli, so danke ich Dir tausendmal für die bewusste Übersendung an Charlie und für Dein letztes Paket mit den 400 Zigaretten. Ich habe sofort nach Erhalt Deines Briefes eine Reihe von Fotographien aus Filmen von mir, Via Schweiz, an Dich absenden lassen. Sie müssen eigentlich heute schon in Deinem Besitz sein.
Ich bitte Dich, liebe Jeannette, bevor Du die grossen Starfotos an die Agenturen weitergibst, fotokopieren zu lassen, da es meine letzten Exemplare sind und Filmfotos hier in Bayern nicht neu angefertigt werden. Eine Zusammenstellung von Kritiken kann ich Dir im Augenblick nicht liefern, da das Material an vielen Orten verteilt liegt und ich hier immer noch nicht zur Ruhe gekommen bin.
Ich komme soeben aus Österreich zurück, wo ich in Salzburg noch die Festspiele miterlebte und in Wien am Burgtheater bereits schon wieder gespielt habe und zwar mein altes Erfolgsstück „Der [L]ügner und die Nonne“ von Kurt Goetz. Damit im Zusammenhang habe ich mich entschlossen, meine Zelte hier in Bayern abzubrechen und das neuerliche Angebot ans Burgtheater zu gehen, angenommen. Ich werde also Ende Oktober wieder nach Wien übersiedeln. Mein Antrag zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft läuft bereits. Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung habe ich bereits in der Tasche. Obwohl es mir nicht leicht fällt, den im Laufe des vergangenen Jahres mit unendlichen Mühen aufgebauten Betrieb der
Münchner Gastspieldirektion und zuzüglich der Stellung, die ich mir als Schauspieler am Staatstheater in München erarbeitet habe, von heute auf morgen aufzugeben, habe ich mich trotzdem dazu entschlossen, nachdem ich die Verhältnisse hier und dort eingehend geprüft habe. Man mag darüber denken, wie man will. 1.) ist mir Wien und Österreich im Laufe der letzten zehn Jahre doch zur neuen Heimat geworden und 2.) sind die Verhältnisse für uns Künstler im grossen und ganzen dort doch in so fern besser, als einem die Tür zum Ausland leichter geöffnet wird. Dazu kommt, dass, wie ich hoffe, meine Scheidung noch innerhalb des kommenden Monats ausgesprochen sein wird, Judith in Wien eine ausserordentliche Stellung hat, gerade jetzt als Tochter des berühmten emigrierten Architekten Professor Clemens Holzmeister und ich ihr natürlich nicht zumuten kann, wenn ich sie heirate, Deutsche zu werden. Sie fährt im kommenden Frühjahr zur endgültigen Erlangung ihrer brasilianischen Staatsbürgerschaft nach Brasilien und ich beeile mich, mein Burgtheaterengagement noch in diesem Jahre anzutreten, da ebenfalls im kommenden Frühjahr eine halbjährige Burgtheter-Tournee nach Südamerika startet, bei der ich dabei sein möchte, um so die Reise gemeinsam mit Judit[h] zu machen. Dies alles sind vor der Hand natürlich noch rosige Zukunftsträume, die augenblickliche Realität sieht etwas anders aus. Wien ist zwar durch die internationale Besetzung sehr lebendig und hochinteressant und durch die vielen Ausländer, ausländischen Agenten auch künstlerisch sehr anregend, aber in Bezug auf praktische Lebensmöglichkeiten doch wesentlich schlechter dran als hier in Bayern. Ich werde dort also wieder wie bisher als einfacher Schauspieler leben und von meiner Gage existieren müssen. Vermögen habe ich mir in der ganzen Umbruchszeit keines erwerben können und die sich aus der Auflösung der Münchner Büros ergebenden Reste kann ich nicht einmal in österreichische Valuten transferrieren. Das einzig zusätzliche sind geplante Aufführungen meiner Stücke, welche Du bei der ersten möglichen Gelegenheit zur Lektüre überwiesen erhalten wirst
Erkundige Dich doch bitte über Stellung und Renommé von Ernst Haeussermann, der in Hollywood sowohl als Schauspieler wie als Agent gewirkt hat und jetzt zurück gekehrt an den Beginn seiner Laufbahn in Wien als Theateroffizier eine grosse freundschaftliche Beziehung zu mir unterhält. Er verspricht ebenfalls, die hollywooder Agenturen auf mich zu hetzen, doch, wie Du weisst, ist das von Europa aus doch anders, als wenn man sich an Ort und Stelle dafür einsetzt. Ich glaube, dass ein Mann wie Obhuels [= Ophüls] durch seinen Aufenthalt in Wien und meine angehendete [= angehende] Staatsbürgerschaft als Österreicher keine Schwierigkeiten haben würde, wenn er mich auch nur für einige Probeaufnahmen herüberkommen lassen würde und am interessantesten wäre es und sicher auch sehr leicht durchführbar, wenn er mich für seine pariser Filme in irgendeiner Form einsetzen könnte, da er ja dann durch persönliche Bekanntschaft den notwendigen Eindruck von mir erhalten könnte. Umsomehr als sich, wie Du ja selbser weisst, mein Französisch eher verbessert als verschlechtert hat und mein Englisch in Bezug auf Accent völlig einwandfrei ist.
Der allgewaltige Theateroffizier der amerikanischen Zone Deutschlands und Österreichs ist Erich Bommer [= Pommer]. Falls durch irgendwelche Zufälligkeiten eine Beziehung Via Hollywood über ihn zu mir herzustellen wäre, würde damit mir unerhört geholfen sein, denn eine von drüben kommende Empfehlung hat ein anderes, viel ntscheidenderes Gewicht als die beste hiesige. Ganz sicher kennt Obhuels [= Ophüls] ihn und hat bestimmt seinerzeit unter ihm in Deutschland gearbeitet. (Er war vor den Nazis in Deutschland der grösste Producer).
Liebes Jeannetteli, Du verstehst, warum ich Dir so ausführlich über berufliche Beziehungen, Notwendigkeiten und Einzelheiten berichte. Meine ganze Umstellung erwächst aus dem Gedanken herüber zu kommen undich [= und ich] will mir jedenfalls nicht den Vorwurf machen durch Ungenauigkeiten oder Unterlassungen Chancen ausgelassen zu haben.
Liebes Jeannetteli, in Wien sind alle Lebensumstände, wie Du ja sicherlich aus den Zeitungen schon ersehen hast, wesentlich schwerer als hier und es kann sein, dass ich mich doch noch an Dich wenden muss mit der Bitte um Hilfe und Unterstützung, aber auf keinen Fall musst Du Dir Sorgen machen in Bezug auf die Lebensumstände wie Hungersnot etc. sowohl für die Familie wie für mich. So schwarz wie Du siehst, ist es nicht.
Grüsse Deinen Herbert von ganzen Herzen.
Noch vielen Dank für alles
Euer
[Curd]
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