• SCHACH DEM JÜRGENS

    Erinnerungen von Artur Brauner

Erinnerungen von Artur Brauner

TEUFEL IN SEIDE (1955, R: Rolf Hansen). Sehen Sie, da fällt mir gleich eine Geschichte ein. In diesem Film spielte neben meiner lieben Freundin Lilli Palmer mein ebenso lieber alter Freund Curd Jürgens die Hauptrolle. Der Curd war Ende der 1950er Jahre riesig im Geschäft. Ganz Europa kannte ihn als „des Teufels General“. Die Amerikaner vergötterten ihn in ME AND THE COLONEL (Jakobowsky und der Oberst / Moi et le Colonel, 1958, R: Peter Glenville). In Venedig hatte man ihm für die beste schauspielerische Leistung den Coppa Volpi überreicht. Seine Filme liefen in Tausenden von Kinos an der Ecke. Und alle mit Riesenerfolg!

Curd also war ein dicker Fisch, und die Produzenten warfen ihre Köder aus, um sich diesen Fisch an Land zu ziehen. Ein Streifen mit dem Namen Curd Jürgens im Vorspann war idiotensicher und so gut wie bares Geld. Den deutschen Produzenten war von vornherein wenig „Petri Heil“ beschieden, um in der Angler-Sprache zu bleiben: ihre Köder, sprich Gagen, waren nicht fett genug. Curd rechnete nämlich nur noch sechsstellig und verstand immer nur das Wort „Dollar“. Und das konnten die Leute aus Hollywood viel besser aussprechen als wir armen Europäer.

Ich gab das Rennen trotzdem nicht auf. Schließlich ist es eine der wichtigsten Eigenschaften eines Filmproduzenten, stets nach den Sternen zu greifen, nicht umsonst hängt in manchen Produzenten-Büros das bekannte Schildchen mit der Aufschrift: „Unmögliches wird sofort erledigt. Wunder dauern etwas länger.“
Ich bombardierte Jürgens mit Filmideen, Drehbuchentwürfen, fertigen Drehbüchern, mit spannenden Stoffen, mit den attraktivsten Rollenangeboten. Ich rief ihn an, besuchte ihn in seinem Märchenschloss am Cap Ferrat, ich schrieb ihm lange Briefe.
Seine Reaktion war immer dieselbe. „Warum soll ich für 100.000 arbeiten, wenn ich für 500.000 arbeiten kann? Kannst du mir diese Frage beantworten, lieber Artur?“ Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern sagte: „Na siehst du, du kannst es nicht.“
„Will er immer noch nicht?“ fragte mich Maria, die beste Ehefrau der Welt, wenn ich wieder mal einen Versuch unternommen hatte. „Er will nicht“, sagte ich, langsam ohne Mut.
„Na, vielleicht will er, wenn du ihm den Peer Gynt vorschlägst?“ Peer Gynt, der Gottsucher, der Abenteurer, der nordische Faust, diese Rolle ist ein Fressen für jeden großen Schauspieler. Hans Albers hatte ihn in seiner unnachahmlichen Art gespielt. Aber das war fast 25 Jahre her, und nichts sprach dagegen, dass Curd Jürgens ihn noch einmal verkörperte. Auf seine ebenfalls unnachahmliche Weise. Wenn er nur wollte…
Ich überlegte, wie ich ihm meine Idee diesmal am überzeugendsten beibringen könnte. Da kam mir, ohne es zu wollen, Sonja Ziemann zu Hilfe. „Du, Artur“, sagte sie am Telefon, „du kommst am achten doch hoffentlich auch zu mir?“

„Selbstverständlich komme ich, das weißt du doch“, antwortete ich. „Was ist übrigens am achten?“ „Dein Gedächtnis war früher besser“, sagte die Sonny spitz. Himmel, stimmt ja, ihr Geburtstag! Am 8. Februar (na, das Jahr spielt ja keine Rolle, Frauen werden von einem gewissen Jahrgang an ohnehin immer jünger) hatte das „Schwarzwaldmädel“ das Licht der Welt erblickt. Den Tag wollte sie diesmal ganz groß feiern.

Es war dann wirklich groß, und es ging hoch her in der Zehlendorfer Villa, wo die Sonny mit ihren Eltern wohnte.

Sie war damals, ähnlich wie Curd, auf einem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Wen sie einlud, der war „in“, wie es heute so schön in der Sprache der „High Society“ heißt. Und wen sie nicht einlud, der fragte sich verzweifelt nach dem Warum. War er etwa „out“?

Ich weiß nicht mehr so genau, wer alles da war, aber die Namen der Gäste hätten ausgereicht, um die Klatschspalten mehrerer Boulevardblätter zu füllen. An einen aber kann ich mich sehr genau erinnern, und das war Curd Jürgens!

Der Curd war in Hochform. Er sang mit mir „Happy Birthday“ im Duett, trank Sekt mit Whisky, schwärmte davon, wie prima doch unsere Zusammenarbeit bei den Ratten gewesen war. Er war so charmant wie immer und sah noch blendender aus als sonst. Darin wurde er höchstens noch übertroffen von Simone Bicheron, einem französischen Mannequin, das gerade Madame Jürgens geworden war.

Jürgens war so guter Stimmung, wie es nur ein frisch Verliebter sein kann. Geschäftliche Dinge aber waren für ihn tabu. Wenn ich ihn auf „mein Thema“ bringen wollte, sagte er: „Du Artur, ich verstehe kein Wort, das muss an der Akustik hier liegen.“

Irgendwann in der Nacht wollte ich mein Glas abstellen. Ich suchte auf einem Bord an der großen Schrankwand ein Eckchen. Dabei entdeckte ich ein Schachspiel. Schach! Wie ein Blitz fuhr es mir durch den Kopf: „Schach dem König, Schach dem Jürgens!“ Das war es!!! Ich ging zu ihm hin und sagte beiläufig: „Man sagt, du bist mal Großmeister im Schach gewesen, Curd, stimmt das?“

„Großmeister nicht, aber für dich reicht’s allemal.“

Ich fühlte mich verpflichtet, ihn zu warnen. „Sei vorsichtig. Ich war mal so‘ne Art Schachwunderkind.“ Was sogar stimmte. Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich mein erstes Turnier bestritt. Das war in Lodz, meiner Heimatstadt. Später habe ich simultan gespielt, gegen 20 Gegner gleichzeitig.

Jürgens sagte nur: „Na, dann komm mal her, du frühreifes Wunderkind.“ Er nahm das Schachbrett, fand nirgendwo einen Platz und legte es kurzerhand auf den Teppich. Wir hockten uns davor, bauten die Figuren auf. Im Nu hatten sich ein Dutzend Gäste um uns versammelt.

„Worum spielen wir eigentlich?“, fragte ich scheinheilig.

„Worum, worum. Um die Ehre natürlich“, meinte Jürgens mit seiner Stimme, die immer so klingt, als gurgele er jeden Morgen mit Reißnägeln. Dann verbesserte er sich: „Das heißt, Ehre ist ein bisschen wenig. Sagen wir, um ’ne Kiste uralten Scotch, okay?“

„Ich hätte einen anderen Vorschlag.“ In die plötzlich auftretende Stille sagte ich langsam: „Wenn du gewinnst, kriegst du deinen Whisky. Gewinne aber ich, spielst du den Peer Gynt für mich. Okay?“

Er sah mich aus ganz schmalen Augen an, grinste und meinte: „Nachtijall, ick hör dir trapsen.“ Und nach einer kleinen Pause: „Also gut, okay.“ Entschlossen schob er den Königsbauern von E2 nach E4. Die Partie dauerte fast zwei Stunden und war so interessant, dass man sie in ein Lehrbuch hätte aufnehmen müssen. Jürgens entfachte ein Angriffsfeuer, dass mir Hören und Sehen verging. Ich bemerkte bald, dass er eine Variante bevorzugte, mit der Weltmeister Aljechin manchen Sieg errungen hatte. Ich verteidigte mich auf sizilianisch.

Als er beim 22. Zug den Springer bewegte, atmete ich tief durch. Es war genau der Zug, den ich erwartet hatte. Ich schob die Dame scharf nach vorn und sagte ganz ruhig: „Schach.“ Jeder Fachmann konnte erkennen, dass Curds Situation aussichtslos war.

Er warf einen langen Blick auf das Brett. Die Kiebitze um uns herum waren totenstill. Durch die Glastür, die uns von den anderen Gästen trennte, hörten wir Caterina Valente singen. Ich sehe noch heute Hans Söhnker vor mir, wie er seine Zigarrenasche geistesabwesend am Sektglas seines Nachbarn abstreifte. O.E. Hasse pfiff durch die Zähne. Und Martin Held murmelte etwas vor sich hin, das wie „Klappe zu, Affe tot“ klang.

Plötzlich stieß Curds Hand nach vorn und schob die Figuren mit einem Ruck zusammen. Er gab auf. „Kompliment, Artur“, sagte er und schüttelte mir die Hand. Ich zog mein Scheckbuch hervor und schrieb in die Spalte „Deutsche Mark in Buchstaben“ das Wort „Dreißigtausend“.

„Anzahlung für Peer Gynt“, sagte ich. „Den Vertrag kriegst du morgen mit Eilpost. Okay?“

„Okay, Atze“, sagte Curd, halb ärgerlich, halb anerkennend.

In jener Nacht sang ich einige besonders traurige Lieder. Was ich immer tue, wenn ich besonders fröhlich bin. Dazu gehörte „Kak bakal pienistyi aromat rasnosyt … Wie das schäumende Glas die Blume verströmt“. Ein russisches Trinklied, bei dem die Gläser an der Wand zerschmettert werden müssen. Sonja Ziemanns Vitrine wies dann auch bald einige Lücken auf.

Artur Brauner

In: Hans-Peter Reichmann (Hg.): Curd Jürgens. Frankfurt am Main 2000/2007 (Kinematograph Nr. 14).