• THEATERARBEIT UNTER BERTHOLD VIERTEL

    Von Julia Danielczyk

Der gebürtige Wiener Regisseur Berthold Viertel (28.6.1885–24.9.1953) war trotz verlockender Angebote aus Ost- und Westdeutschland ans Burgtheater gekommen, wo nicht nur sein Inszenierungsstil das damalige Wiener Theaterleben wesentlich prägte, auch die intensive Arbeit mit den Schauspielern schien für alle Beteiligten bereichernd. Viertel war aber auch derjenige, der das Wiener Publikum der Nachkriegszeit erstmals mit Stücken konfrontierte, in welchen „die Menschen interessieren müssen, weil der Vorgang nicht fesselt, die Charaktere faszinieren, weil kein Konflikt uns spannt.“[i] Mit ihrer Spielplanpolitik bezogen der damalige Burgtheaterdirektor Josef Gielen gemeinsam mit seinem engsten Mitarbeiter und Schwager Berthold Viertel bewusst Gegenposition zum Erbauungs- und Lachtheater der NS-Zeit, wo es sich der Kulturbetrieb zur Aufgabe machen musste, die durch den langjährigen Krieg demoralisierte Bevölkerung abzulenken und mittels heiterer Liebes- und bewährter Verwechslungskomödien bei Laune zu halten.

Die Theaterarbeit mit Berthold Viertel erwies sich für Jürgens insofern als gewinnbringend, da er eines Regisseurs bedurfte, der ihn als Darsteller zu führen in der Lage war, der gleichsam den differenzierten Schauspieler Jürgens „erschloss“. Judith Holzmeister, Burgschauspielerin und damalige Ehefrau Jürgens’, bestätigt: „Curd spielte damals den Trigorin in der Möwe, Viertel leitete ihn auf zarte, unbemerkbare Weise, so daß schließlich der Eindruck entstand, als sei die Vielschichtigkeit vom Schauspieler selbst gekommen.“[ii] Erst mit Viertels Unterstützung konnte Jürgens sein Vorhaben – „Ich möchte gern recht bald einen dicken Bauch und tiefe Ränder unter den Augen haben, damit ich Charakterrollen spielen kann. Dann kann’s erst richtig losgehen!“[iii] – verwirklichen. Unter Viertels Regie „schlüpfte Jürgens nicht nur in die Rolle wie in eine Haut, sie verwächst völlig mit ihm; ohne eine einzige Falte zu zeigen“.[[iv]

Mit Viertel als Mentor kam Jürgens weg von der sogenannten Gebrauchsdramatik der früheren Jahre. Die gewählten Stücke stellten vielmehr die Frage nach den Ursachen zwischenmenschlicher Katastrophen, im Mikrokosmos der Familie wurden die psychisch zugefügten Wunden analysiert. Programmatisch präsentierte der damalige Burgtheater-Oberspielleiter in eigener Übersetzung und Regie dem Wiener Publikum die „psychoanalytischen Theaterballaden“ von Tennessee Williams. Und das in einem Inszenierungsstil, der sich vom bisherigen grundsätzlich unterschied, welchen Viertel mit dem polemischen Begriff „Reichskanzleistil“ versah – seine Bezeichnung für den durch äußerliches Pathos und „falschen Klassizismus“[v] geprägten Spielstil der NS-Zeit. Außerdem besetzte er gegen „das Fach“. So wurde die Figur des von den Ansprüchen seiner Familie überforderten Tom Wingfield in Tennessee Williams‘ „Die Glasmenagerie“ (1949) von Curd Jürgens gespielt, woraufhin eine Reihe von anspruchsvollen, psychologisch durchdachten Rollen folgen sollte. Die Figur des fröhlichen, gutaussehenden, jungen Mannes hatte Viertel mit Josef Meinrad besetzt, der bislang in eher komischen Rollen reüssiert hatte. Befremdet reagierte die Kritik auf die ungewohnte Rollenverteilung: Jürgens als Tom Wingfield wurde ganz plötzlich als „ernst-gereift gewordener Sprecher“[vi] rezipiert: „Neben diesen zwei Figuren (Amanda und Laura Wingfield, Anm.d.Verf.) aus dem Dämmerdunkel der Dichtung sind dann der problematische, noch im Zwielicht der kleinbürgerlichen Häuslichkeit stehende Tom des Curd Jürgens (…) sowie der burschikose, unkompliziert-banale, gesund-optimistische Jim Josef Meinrads.“[vii] Friedrich Schreyvogl – von 1954 an selbst Vizedirektor des Burgtheaters – meint pointiert in seiner Kritik: „Es ist erstaunlich, welchen weiten Weg der Reife dieser junge Schauspieler in den letzten Jahren genommen hat. Er verfügt über reiche äußere Mittel; nun wird man auch der inneren Fülle gewiß, aus der er schöpfen kann.“[viii]

Dass der Regisseur den Schauspieler trotz dessen großer Beliebtheit in der NS-Zeit in seinen engeren Kreis aufnahm („Curd und Viertel verstanden sich so gut, daß Curd schließlich in jedem Stück, das Viertel inszenierte, eine Rolle hatte.“[ix]), mag damit zusammenhängen, dass Viertel als Theatermann in erster Linie an den darstellerischen Ressourcen seiner Mitarbeiter interessiert war, wie er in seinem Aufsatz über die Zusammenarbeit mit Werner Krauß bestätigt.[x] Auch Egon Hilbert, damaliger Leiter der Bundestheaterverwaltung, begrüßte Viertels Besetzungspolitik; mit treffsicherem Blick hielt er Jürgens für einen „der begabtesten Schauspieler“ überhaupt, „ein ausgezeichneter Theseus“ (in Wanieks „Ein Sommernachtstraum“-Inszenierung), der auch „junge, sehr männliche Typen der modernen Gesellschaftkomödie“ ganz „wunderbar“ gestalte.[xi] Endlich konnte Jürgens die ihm zugedachte Typologie des Draufgängers und Charmeurs ablegen.

Zugleich wirkt es aber auch so, als wollte man Curd Jürgens nicht in „Problemrollen“ sehen und sich von der Kategorisierung „gutaussehender Jüngling“ nicht lösen. „Da Erzählung und Betrachtung aber trotz aller Intensität des Sprechers nicht gleichwertig neben der Handlung stehen können, kann er (Curd Jürgens) allerdings nur die erste Hälfte dieses Sonderauftrages erfüllen. Dagegen bewährt er (sich) im schauspielerischen Teil (durch) Temperament und Natürlichkeit (…).“[xii]

Sowohl Publikum als auch Kritik irritierte vor allem Jürgens’ Darstellung des Stanley Kowalski in Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“, als „erotischer Muskelprotz“ wurde der Schauspieler einerseits wahrgenommen, andererseits wurde erstmals die „Intensität, mit der er sich seelisch als auch körperlich in die Handlungen hineinfindet“[xiii] gelobt, d.h. der „neue“ Jürgens wurde als ebenso „faszinierend wie irreführend“[xiv] rezipiert

In der Rolle des unberechenbaren Trigorin in Tschechows „Die Möwe“ zeigte sich der zur sogenannten „Viertel-Truppe“ gehörende Schauspieler als virtuoser Charakterdarsteller. Aber auch in Nebenrollen reüssierte Jürgens, in der Uraufführung von „Herbert Engelmann“ wurde er als einer der besten Nebendarsteller besonders hervorgehoben: „Ein souveränes Meisterstück: Curd Jürgens’ komische und niemals lächerliche Fragwürdigkeit eines von vielerlei Haut-Gout umwitterten Barons.“[x]

Mit Viertels Unterstützung wagte sich Jürgens auch ans Regiepult: 1952 inszenierte er mit Hans Holt in der Titelrolle Artur Schnitzlers „Anatol“, eine Produktion, die von der Kritik einhellig abgelehnt wurde. Man fand nicht nur an Jürgens’ nüchterner, unsentimentaler Bühnenwelt keinen Gefallen, es fehlte ihm zusätzlich auch das Regie-Handwerk. Das immerhin als „nicht uninteressantes Inszenierungsexperiment“[xvi] aufgenommene Stück wäre – so lautete ein dezenter Hinweis – mit Jürgens in der Titelrolle wohl besser angekommen.[xvii]

Trotz der Bühnenerfolge wechselte Jürgens Anfang der 1950er Jahre vom Theater ganz zum Film über. Als Begründung gab er an:

„Weil der Mann, der mich für das Theater begeisterte, der mein Mentor wurde und mein Regisseur, weil Berthold Viertel starb.“[xviii]

Mit dem Berthold Viertel im Hintergrund avancierte Jürgens erst zu jenem ernst zu nehmenden und anspruchsvollen Schauspieler, als der er dann auch im Film galt. Als ihn 1955 die Verkörperung des Harras in der Verfilmung von Carl Zuckmayers „Des Teufels General“ international bekannt machte, hatte Jürgens endgültig jenes Image abgelegt, mit dem er zu Beginn seiner Bühnenlaufbahn in „Katalysatorrollen“ besetzt worden war, also in Rollen, die über kein Stück prägendes Profil verfügen (die Quantität der Bühnenpräsenz ist hierbei nicht entscheidend, auch Hauptrollen können diesem Terminus zugeordnet werden). Mit dem neuen Image des Lebemannes und Grandseigneurs, das er auch im Privatleben pflegte und medienbewusst vermarktete, ging er mit anspruchsvollen Figuren an die Arbeit.

Auszug aus „Zur Theaterarbeit eines Filmstars oder Die Frage, was aus Curd Jürgens ohne Berthold Viertel geworden wäre“ von Julia Danielczyk. In: Hans-Peter Reichmann, (Hg.): Curd Jürgens. Frankfurt am Main 2000/2007 (Kinematograph Nr. 14).

Anmerkungen:

[i] Friedrich Schreyvogl: Glasmenagerie. In: Wiener Tageszeitung, 25.1.1949.

[ii] Judith Holzmeister: Curd. In: Margie Jürgens [Hrsg.]: Curd Jürgens. Wie wir ihn sahen. Erinnerungen von Freunden. Wien, München 1985, S. 11.

[iii] Zitat nach Lilli Palmer: Leading man. In: ebda. S. 42.

[iv] Friedrich Schreyvogl: Endstation Sehnsucht. Rückfall ins Pathologische – Zur Problematik der neuen Tennessee-Williams-Premiere am Akademietheater. In: Wiener Tageszeitung, 22.4.1951.

[v] Berthold Viertel: Verantwortung des Schauspielers. In: Peter Roessler, Konstantin Kaiser: Dramaturgie der Demokratie. Theaterkonzeptionen des österreichischen Exils. Wien, o.J., S. 213.

[vi] N.N.: Großstadtpoesie im Akademietheater. In: Arbeiter Zeitung, 25.1.1949.

[vii] N.N.: Die Glasmenagerie. In: Neues Österreich, 25.1.1949.

[viii] Friedrich Schreyvogl: Glasmenagerie. In: Wiener Tageszeitung, 25.1.1949, o.S.

[ix] Judith Holzmeister, a.a.O., S. 13.

[x] Vgl. Berthold Viertel, a.a.O., S. 213.

[xi] Brief von Egon Hilbert an Burgtheaterdirektor Josef Gielen vom 17.3.1948, Österreichisches Staatsarchiv, AdR/BmU/BV 460/48. Zit. nach: Hilde Haider-Pregler: Das Burgtheater ist eine Idee … In: Hilde Haider-Pregler, Peter Roessler [Hg.]: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945. Wien 1998, S. 101f.

[xii] Edwin Rollett: ,Glasmenagerie’ im Akademietheater. In: Wiener Zeitung, 25.1.1949.

[xiii] N.N.: ,Desire’ – ,Sehnsucht’ oder ,Gier’? In: Die Presse, 28.4.1951.

[xiv] Ebda.

[xv] Friedrich Torberg: Gerhart Hauptmanns ,Herbert Engelmann’. Uraufführung in der Bearbeitung von Carl Zuckmayer in Wien. In: Neue Zeitung, München, 10.3.1952.

[xvi] N.N.: ,Anatol’ im Akademietheater. In: Die Presse, 15.6.1952.

[xvii] Vgl. Edwin Rollett: ,Anatol’ im Akademietheater. In: Wiener Zeitung, 15.6.1952.

[xviii] Interview mit Curd Jürgens in blick, 1960, Zeitungsausschnitt, Österreichisches Theatermuseum, o.S.

  • Mit Käthe Gold. „Die Möwe“ (1952)