Tagebuch „Nachhilfestunden in Heimweh“, 1972, 3
[…] Sie liebte mich noch immer, auf ihre Weise
Aber das Leben drängte auf sie ein. Die panische Angst, mit der sie seit zwei Jahren ihr Leben vorbeiziehen sah. Ohne Kinder, mit fünf Häusern, aber ohne Heim. Und Nächten mit quälendem, dumpfen Schlaf
Mit burschikoser Herzlichkeit ein Gutenachtwort “Dors bien, ma petite“. Noch ein paar belanglose Worte im Dunkeln, mit denen wir uns gegenseitig über die Leere, über das Unausgesprochene hinwegschwindelten. Dann Stille, in der man den Andern belauscht.
Endlich der tiefe gleichmässige Atem, wie eine Erlösung. Um gegen Licht und morgendlichen Lärm geschützt zu sein, türmt sie vorm Einschlafen drei Kissen auf. Eins auf den Kopf, eins an jedes Ohr. Seit sie unglücklich ist, muss ich sie lange wecken
Früher ging das Ruck-zuck. Besonders auf Reisen. Nackt aus dem Bett gesprungen die Zahnbürste über und über mit Paste […]
[…] beschmiert – noch nie habe ich einen Menschen gesehn, der soviel Zahnpasta verkonsumiert – hatten wir ein stereot[y]pes Ritual: Ich, noch im Bett liegend, die kurzen Minuten bis zum Aufstehen geniessend, muss da einer den Motor des Tages angeworfen hatte, rufe herüber in’s Badezimmer: „Alors, je t’attends où ?” Wasser prustend, sie spült den Mund nach dem Zähneputzen nie mit einem Glas, immer mit einer Hand voll Wasser, das sie in den Mund hineinwirft, antwortet sie:
“Ich weiss nicht, wo Du sein wirst, aber ich warte auf Dich unten im Wagen.“ Und wirklich, wie oft hat sie dann auf mich warten müssen. Waschen, Anziehen geht bei mir morgens wie der Blitz. Als ich 18 war hat mir einmal ein Maskenbildner bei der Ufa in Berlin gesagt, ich hätte eine Veranlagung zu gequollene Augensäcken und solle nie vor dem Drehtag ein heisses Bad nehmen sondern immer nur abends. Das habe […]
[…] ich beibehalten bis heute. Dafür ist dann aber das abendliche Bad ein Ritual mit Musik und Gin-tonic und so. Also Waschen und Anziehen geht wie der Blitz, aber dann kommen andere Verzögerungen. Der Thron, plötzlich, oder ich kann das Geld nicht finden, oder mein Scheckbuch. Oft passiert es, dass ich aus dem Badezimmer komme und Simone wirklich schon weg ist. Wütend trödele ich dann absichtlich. Da kann es passieren, dass die [T]ür aufgeht, (wenn wir in Paris sind, meine ich) und sie steht da eine riesige Baguette unterm Arm, Pastete mit [B]utter, Radieschen, Schnittlauch, Schinken in den Händen: “Bist Du fertig bist, habe ich die ganze Rue Ponthieu eingekauft“ Ruft es voll Stolz, strahlend und nun wurstelt sie das Fr[ü]hstück zusammen: Grapefruit, Joghurt Tee füe sie, für mich Schinken Weissbrot, Café, Butter, Radieschen
An solchen Tagen bin ich nach dem Fr[ü]hstück so vollgefressen, dass ich eine Viertelstunde […]
wehmütig ums Bett herumstreiche. Sie guckt garnicht hin, sondern tut als fällt es ihr plötzlich ein: “Mon Dieu, ich hab ganz vergessen Alexandre hat sich heute Vormittag extra freigeahlten, um mir persönlich ein[e] Rinsange zu machen. Ihm gefällt meine Haarfarbe nicht. Er sagt es macht hart auf den Photos. Treffen wir uns in der “Truita“ oder wo willst Du essen? “ All das nur um es mir leicht zu machen, noch eine Stunde zu pennen.
Den Bauch vollgeschlagen sage ich dann meistens: “Du weißt doch, ich muss hungern“ Eine Viertelstunde wird nun über den Treffpunkt discutiert. Immer geht es im Grunde um dasselbe. Sie will mich in Lokale schleppen, mit jungen lustigen Leuten, ich sehne mich nach leeren Tischen und eifriger Bedienung. Immer gibt sie nach und wenn sie zu Josef, Fouquets oder Maxim’s hereinkommt, strahlt sie, als wär’s ihr Lieblingslokal, und hat v[ö]llig vergessen, wieviel lieber sie an einem engen Tisch mit Studenten, Mannequins, Journalisten und Hippies sitzen würde. So ist sie. Ein Kind des Augenblicks. “Ich bin auf der Welt, um glücklich zu sein.“ Und früher hat sie dann noch hinzugefügt […]
[…] „Merci, petit Jesus“ Danke, kleiner Jesus. Jetzt seit sie ihr Leben entdeckt hat, ihr eigenes unabhängig von mir, sagt sie das nicht mehr.
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